Home Region Sport Magazin Schweiz/Ausland Agenda
Kanton AR
20.11.2023
20.11.2023 20:38 Uhr

Vor- und Nachteile der ersten "Megafusion" im Glarus

Bild: Marc Schlumpf, www.icarus-design.ch, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons
Die bevorstehende Abstimmung in Ausserrhoden könnte Grosses in Bewegung setzen: Die Reduktion von 20 auf drei bis fünf Gemeinden steht zum Votum. In 2006 entschied die Glarner Bevölkerung an der Landsgemeinde den Zusammenschluss von 25 Gemeinden auf drei Einheitsgemeinden. So wenige wie in keinem anderen Kanton. Doch auf welcher Ausgangslage basierte die damalige Abstimmung? Was waren die Folgen? Und überwiegen die Vorteile die Nachteile im Endergebnis? Die Einschätzung der heutigen Gemeindepräsidenten Hans Forrer (Glarus Süd), Peter Aebli (Glarus) und Thomas Kistler (Glarus Nord) liefert Anhaltspunkte.

Die bevorstehende Abstimmung über die Vereinigung von 20 Gemeinden in Ausserrhoden ist kein Novum in der Schweiz: Der eine oder andere mag sich noch daran erinnern, dass vor 17 Jahren, am 7. Mai 2006, der Kanton Glarus über eine ähnliche „Mega-Fusion“ abgestimmt hat. Damals wurden 25 Gemeinden auf einer Fläche von 685 km2 zu drei Einheitsgemeinden fusioniert – die 20 ausserrhodischen Gemeinden erstrecken sich heute auf einer Fläche von 243 km2. Der Kanton ist somit viel stärker fragmentiert, als es Glarus damals war – doch gilt das auch für die Zusammenarbeit?

Gründe sprachen für Fusion
An diesem sonnigen Maitag war nicht nur das Wetter unverhältnismässig warm: Die Landsgemeinde in Glarus wurde zu einer der hitzigsten Abstimmungen der Geschichte. Abgestimmt werden sollte über den Zusammenschluss der Glarner Gemeinden - dereinst noch 25 - sowie zahlreichen Schul-, Fürsorge- und Bürgergemeinden. Parlament und Regierung schlugen die Vereinigung auf 10 Gemeinden vor. Gründe dafür waren zum einen die nachlassende Bereitschaft in der Bevölkerung, Ämter in den Gemeinden (ehrenamtlich) zu besetzen und die finanzielle Angeschlagenheit einiger Gemeinden.

Radikale Überraschung
„Dass sich etwas ändern musste, um handlungs- und wettbewerbsfähig zu bleiben, war den meisten klar“, sagt Hans Rudolf Forrer, Gemeindepräsident der heute flächenmässig grössten Glarner Gemeinde Glarus Süd. Doch zur grossen Überraschung stand auf der Landsgemeinde plötzlich nicht nur der Parlamentsvorschlag, sondern auch die radikale Reduktion auf drei Gemeinden zur Abstimmung: Kurt Reifler, Bürger der Gemeinde Schwanden, stellte den Abänderungsantrag – und erhielt neben der Zustimmung der Sympathisanten auch die Zustimmung derer, die eine Fusion eigentlich gar nicht wollten, erinnert sich Forrer. „Natürlich hatten wir schon von dem radikalen Vorschlag gehört, aber dass er wirklich zur Annahme kommt, geschah unerwartet.“ Ebenso dass nicht die Jungen Grünen diesen gestellt hätten.

Ergebnis in Frage gestellt – Landsgemeinde auch?
Da das Ergebnis an diesem Tag sehr knapp ausfiel, sammelten Gegner der Fusion Unterschriften und erwirkten eine ausserordentliche Landsgemeinde in 2007: Bei dieser wurde nochmals über die konkrete Reduktion auf drei Gemeinden abgestimmt – und mit einer 2/3-Mehrheit angenommen. „Danach hat es noch Störer gegeben, aber die Deutlichkeit der Annahme hat die Akzeptanz bei vielen begünstigt“, erinnert sich Forrer. Die Landsgemeinde als oberstes Legislativorgan werde stark geachtet: „Hätte man das Ergebnis der ersten Landsgemeinde nicht deutlich replizieren können, hätte man im Nachhinein auch das Instrument der Landsgemeinde an sich in Frage stellen können.“ Seitdem gibt es drei Gemeinden im Kanton – so wenige, wie in keinem anderen der Schweiz.

Regierung übernimmt Leitung
Bereits vor der Abstimmung war klar, dass die Regierung die Strukturreform anleiten wird. Das sei auch zielführend, findet Thomas Kistler, Gemeindepräsident Glarus Nord: „Es muss eine übergeordnete Instanz geben, die den Lead übernimmt – rein auf Gemeindebene wäre es sonst von Beginn an schon zu schwierigen Diskussionen gekommen.“ Die Regierung rief zwei Projektgruppen ins Leben, die sich um die Ausgestaltung kümmerten: Auf kantonaler Ebene unter Einbezug von Gemeindestimmen wurden die Kantonalisierung des Sozial- und Vormundschaftswesens, die Rahmenbedingungen für die Gemeinden, die Umsetzungsarbeiten und das Controlling gebündelt. Die zweite Projektgruppe bestand aus dem Zusammenschluss von Fachleuten und Amtsträgern der Gemeinden, die bereits in Glarus, Glarus Süd und Glarus Nord eingeteilt waren.

Künftige Gemeindeaufteilung war bekannt
„Dass es diese Aufteilung geben wird, war eigentlich klar, war doch das Glarnerland in Unter-, Mittel- und Hinterland aufgeteilt“, erklärt Forrer. Allgemein sei vor den Landsgemeinden die Bevölkerung stets gut informiert worden, so dass keine Unklarheiten über Abstimmungsgegenstände herrschten. „Das ist vielleicht der grösste Unterschied zur Abstimmung in Ausserrhoden“, vermutet er. In Glarus habe die Bevölkerung mit der Zahl 10 eine genaue Anzahl und schon grobe Details zur Vereinigung gekannt. Der Wortlaut des Gegenvorschlags der ausserrhodischen Regierung ‚auf drei bis fünf Gemeinden‘ ohne Hintergrunddetails sei schwammig.

Gleichberechtigte Gemeinden und Kampfwahlen
Seit der Fusion ist die Besetzung der Ämter wieder leicht: „Es finden richtige Kampfwahlen statt – man muss nicht mehr krampfhaft suchen: Es bewerben sich Personen, die wirklich Zeit und Lust darauf haben, etwas zu bewegen“, sagt Forrer. Zudem sei die Gleichberechtigung unter den Dörfern grösser und man können über eine grössere Fläche einheitlich entscheiden. „Früher wurde in den Gemeinden oft viel zu lang über Details gestritten – das hat aufgehalten und vom Wesentlichen abgelenkt.“ Heute könnten Entscheidungen viel schneller gefällt werden, findet auch Kistler.

«Früher wurde in den Gemeinden oft viel zu lang über Details gestritten – das hat aufgehalten und vom Wesentlichen abgelenkt. Dafür war ich damals viel näher an den Bürgern dran, war auf jeder Hauptversammlung und kannte mein Dorf.»
Hans Forrer, Gemeindepräsident Glarus Süd

Handlungsfähiger und effizienter
Mit den Gemeindepräsidenten treffe man sich alle zwei Monate: „Wir können wirklich zusammenarbeiten, Synergien identifizieren, nutzen und an einem Nachmittag neue Projekte ins Leben rufen“, erklärt Peter Aebli, Präsident der Gemeinde Glarus. Das sei ein gewaltiger Fortschritt und eine fundamentale Änderung: Früher habe es nur eine jährliche Gemeindepräsidentenkonferenz gegeben. „Diese diente dem Austausch, aber handlungsfähig war man nicht.“ Auch bei der Schulraumplanung und Finanzen habe mein heute viel grösseren Spielraum: „Wir sind immer klar verantwortlich für die ganze Gemeinde, das macht Planungen einfacher und effizienter“, sagt Kistler. Die effiziente Aufteilung von Ressourcen und klare Verantwortungen ermöglichten zudem Einsparungen.

Effizienzgewinn und niedrigere Steuern
Herausragend sei vor allem der Effizienzgewinn in den technischen Betrieben: „Wir sind um ein Vielfaches innovativer und leistungsfähiger“, sagt Aebli für die Gemeinde Glarus. „In alten Strukturen wäre dieser Fortschritt undenkbar gewesen. Ebenso erfolgreich sei die gemeinsam geführte Altersbetreuung: „Wir nutzen die Synergien hier hervorragend und können eine sichere Versorgung bieten.“ Die Belegung durch Senioren erfolge dabei bereitwillig auch gemeindeübergreifend. Allgemein habe die Fusion dem Kanton gutgetan: „Wir sind heute wettbewerbsfähiger und können mit den Nachbarkantonen mithalten“, erklärt Kistler. Auch das Steuerniveau von Kanton und Gemeinden zusammen sei nach der Fusion insgesamt deutlich gesunken.

Professioneller mit hoher Dienstleistungsqualität
Die Professionalität der Verwaltungen sei in grossem Masse gestiegen, da ausgebildetes Fachpersonal die Stellen besetze und weniger ehrenamtlich organisiert würde. „Insbesondere die Modernisierung und Digitalisierung hätten die meisten Gemeinden ohne die Fusion kaum bestreiten können“, sind sich Kistler, Aebli und Forrer einig. So sei auch die Qualität der Dienstleistungen für die Bürger viel höher als zuvor. „Wir haben längere Öffnungszeiten, bieten Online-Dienste und können noch umfangreichere Services anbieten.“

Identität bleibt erhalten
„Auch heute fühlt man sich als Bürger von Schwändi, Linthal oder Engi“, sagt Forrer. Keiner identifiziere sich als Bürger von Glarus Süd. „An erster Stelle kommt der Ort, an dem man wohnt“, sagt auch Aebli. Danach folge die Identifikation als Glarner nach aussen. Das Vereinsleben oder Dorfleben sei uneingeschränkt erhalten geblieben. „Einzig die politische Gemeinde hat sich verändert, nicht aber der Charakter der einzelnen Dörfer innerhalb dieser.“ Fragt man bei den Bürgern nach, kritisiert vor allem die ältere Bevölkerung die Nennung des Bürgerortes im Pass: Dort stehe nun mehr nur noch der Name der Fusionsgemeinde.

 

«Wir können wirklich zusammenarbeiten, Synergien nutzen und an einem Nachmittag neue Projekte ins Leben rufen.»
Peter Aebli, Gemeindepräsident Glarus

Distanz zum Bürger grösser
Ein markanter Nachteil sei, dass die Nähe zum Bürger durch die Vereinigungen verloren gegangen sei: „Damals war ich viel näher an den Bürgern dran, war auf jeder Hauptversammlung und kannte mein Dorf“, sagt Forrer. Heute sei das auf Grund der Grösse der Gemeinden nicht mehr möglich. „Man kann als Gemeindepräsident auch nicht mehr an jede Veranstaltung gehen.“ So sei man darauf angewiesen, dass der Bürger mit Anliegen auch aktiv auf einen zukomme. Der Weg zur Gemeinde sei jetzt vielleicht weiter, aber die Erreichbarkeit des Gemeindepräsidenten sei immer noch gut, findet Kistler:„Man kann immer einen Termin mit mir vereinbaren - auch vor Ort - oder zu mir ins Gemeindehaus in Niederurnen in die monatliche Sprechstunde kommen.“

Teilnahme an Versammlungen geht zurück
Leider nehme die Beteiligung an Gemeindeversammlungen und Anlässen jedoch stetig ab. Da es im Glarus keine Abstimmungen gibt, ist die Gemeindeversammlung der Entscheidungsort – und damit essenziell. „Das kann aber auch an der Zeit und den Interessen der Bürger liegen und muss nichts mit der Fusion zu tun haben“, vermutet Aebli. Andere Kantone sähen sich demselben Problem gegenüber. „Kurz nach der Fusion hat man einen enormen Beteiligungsauftrieb verspürt“, sagt Forrer. An der ersten Gemeindeversammlung habe man den Gemeindenamen und das Wappen bestimmen können. „Viele wollten anfangs etwas beitragen, waren motiviert. Zweimal um die Tausend Personen nahmen an den denkwürdigen Versammlungen zum Thema Schulen teil.“ Dass das heute etwas eingeschlafen sei und sich in Glarus Süd nur noch ca. 300 Personen beteiligen, sei schade, aber wohl unvermeidlich.

Parlament als Lösung
Auch die einwohnerstärkste Gemeinde Glarus Nord hätte an den Versammlungen rund 11‘000 Stimmberechtigte: „Allerdings besuchen diese auch hier nur 200 bis 400 Personen“, sagt Kistler. Auf der Suche nach Gründen, sieht Kistler auch den höheren Aufwand für die Bürger: „Früher musste man nicht erst nach Näfels in die Lintarena gehen, man hatte die Versammlung im Ort.“ Ein weiteres Problem sei die ausreichende Information: „Teilweise entstehen Themen erst kurz vor der Versammlung und es bleibe zu wenig Vorlaufzeit, um alle Bürger umfassend zu informieren.“ Glarus Nord würde gerne ein Parlament ins Leben rufen, um den Prozess zu verbessern: „Dann würden nur noch kostenintensive und sehr wichtige Geschäfte in der Gemeindeversammlung behandelt – über alles andere, wie auch Rechnung und Budget, könnte das Parlament entscheiden.“

«Bei uns haben Kanton und Gemeinden von der Fusion profitiert – wir sind heute stärker und konkurrenzfähiger als zuvor.»
Thomas Kistler, Gemeindepräsident Glarus Nord

Kosten steigen durch Leistungsanspruch
Dass eine Fusion kostet, sollte jedem klar sein. „Allerdings bezuschusste der Kanton die Gemeinden nicht unerheblich und trug damit weitestgehend die Kosten der Vereinigung“, erklärt Aebli. Man fusionierte zudem nicht, um Kosten zu sparen: „Es ging darum, die Gemeinden stark, handlungs- und zukunftsfähig zu halten.“ Die Kommunikation sei im Prozess professionalisiert worden, wofür höhere Kosten anfielen: „Diese Investition war aber notwendig, um die Bürger und Gemeinden abzuholen und entsprechend zu begleiten.“ Heute seien die Verwaltungskosten allgemein höher als damals: „Der Aufwand ist gestiegen, aber auch die Professionalität sowie Qualität – der Kostenanstieg ist unvermeidbar, wenn man den Ansprüchen der Bürger und der Zeit gerecht werden will. Das hat nichts mit der Fusion zu tun“, sagt Forrer.

Vom Mut zur Veränderung profitieren
„Ich hoffe, die ausserrhodische Bevölkerung hat den Mut, zukunftsgerichtet zu entscheiden“, sagt Peter Aebli. Heute gäbe es nur noch wenige Glarner, die die Fusion als Fehlentscheidung ansähen: „Uns hat die Vereinigung stärker gemacht, wir hätten sonst viel Potenzial verschenkt.“ Gleiches sieht er auch für Ausserrhoden: „Um wettbewerbsfähig und stark zu bleiben, muss man alte Strukturen verlassen.“ Hans Forrer ist derselben Meinung, betont jedoch die Gewichtung der Volksstimme: „Eine Fusion muss von den Bürgern gewollt und getragen werden.“ Man identifiziere sich immer zuerst mit der Gemeinde – und diese müsse für eine gute Aufklärung sorgen. „Aber egal, zu welchem Ergebnis die Ausserrhoder kommen – irgendeine Fusion wird es bald geben“, ist sich Forrer sicher. „Dabei kann ich die Ausserrhoder nur ermuntern: Bei uns haben Kanton und Gemeinden von der Fusion profitiert – wir sind heute stärker und konkurrenzfähiger als zuvor“, sagt Thomas Kistler.

herisau.24/Vanessa Vogt